Morgens, 6:54 Uhr. Mein Zug tuckert langsam aus dem Bahnhof und nimmt Fahrt in Richtung Stuttgart auf. Wie jeden Morgen wenn ich ins Büro fahre, werfe ich erst einmal einen Blick auf die aktuellen Nachrichten und schaue die neuen Beiträge von Websiten durch, die ich abonniert habe. An vielem bleibe ich nicht mehr hängen. Das Weltgeschehen verfolge ich nur noch sporadisch und wohl dosiert. Wenn irgendetwas wirklich weltbewegendes passiert, erfahre ich es schon irgendwie. Die Beiträge der abonnierten Webseiten sind ein wenig interessanter. Neuigkeiten rund um Nachhaltigkeit, vegane Ernährung, Minimalismus – Themen, mit denen ich mich selbst auch beschäftige.
Heute stolpere ich – mal wieder – über einen Beitrag zum Thema Selbstständigkeit und ortsunabhängiges Arbeiten. Nicht ungewöhnlich in meiner Bubble, doch heute regt es mich irgendwie auf. „Raus aus dem Hamsterrad – Tipps, wie auch du endlich unabhängig werden kannst“ lese ich als Überschrift und klicke den Artikel an. Er beschreibt, wie furchtbar es doch ist, in einer langweiligen nine-to-five Routine gefangen zu sein und sich nicht selbst verwirklichen zu können. Anschließend eine Auflistung von Tipps, wie man sich ein eigenes Business aufbauen kann. Als Influencer, als Coach, als Dienstleister .. whatever. Die „Möglichkeiten sind schier endlos“ propagiert der Artikel und regt an, sein Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen. Werde dein eigener Boss. Folge deiner Leidenschaft. Mach dich Unabhängig. Gefolgt von fancy Erfolgsstories derer, die es bereits geschafft haben. Arbeiten am Strand. Van-Life-Influencer auf Weltreise. Co-Working auf Bali.
Ich komme ins Träumen. Ein kleines bisschen. Sehe mich selbst in Gedanken in einer Hängematte am Strand mit dem Notebook auf dem Schoss. Neben mir ein Cocktail. Vor mir das Meer. In den Haaren ein warmer, tropischer Wind. Dann hält der Zug rumpelt an und zieht mich quietschend in die Realität zurück. Kein Bali. Nur der trostlose Bahnhof in Stuttgart Bad Cannstatt. Ich steige aus, kämpfe mich durch die Masse an Pendlern, Schülern und Studenten die Treppen runter und während ich mich zu Fuß in Richtung Büro aufmache (Hauptverkehrsbrücke gesperrt, kein Busverkehr, Hurra!), frage ich mich, was denn an so einem Hamsterrad eigentlich so furchtbar schlimm sein soll.
Mein Job ist ein klassischer nine to five Job. Verwaltungsarbeit im Büro – ganz unspektakulär. Manchmal stressig aber spannend, manchmal Routine und langweilig. Die Arbeit ist nicht super-ätzend, aber ich mache auch keine Luftsprünge und würde am liebsten den ganzen Tag von früh bis spät nichts anderes machen. Morgens fahre ich ins Büro, erledige, was ich zu erledigen habe und abends fahre ich wieder nach Hause. An den Wochenenden freue ich mich, dass ich frei habe.
Die Verfechter des „Raus aus dem Hamsterrad“-Hypes würden angesichts dieser Beschreibung meiner Arbeit sicherlich die Hände über dem Kopf zusammen schlagen. Ich höre sie schon sagen, dass ich mein Leben und mein Potential vergeude. Dass es da draussen noch so viel mehr für mich gibt. Dass ich meinen Träumen folgen soll. Und dass ich erst dann richtig glücklich sein kann, wenn ich es aus dem verdammten Hamsterrad rausgeschafft habe.
Will ich überhaut raus aus dem Hamsterrad?
Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann erscheint mir so ein Hamster in seinem Hamsterrad doch recht glücklich. Kauft man so etwas nicht sogar genau deshalb? Damit der Hamster happy ist? Wieso sollte mich mein Hamsterrad also unglücklich machen? Und wieso sollte ich das wahre Glück erst haben können, wenn ich den „Raus aus dem Hamsterrad“-Parolen folge?
Ja, meine Arbeit ist nicht spektakulär, spannend und instagramable. Im Büro weht mir kein tropischer Wind durch die Haare, statt Cocktails mit Schirmchen gibt es Kaffee und im Hintergrund rauscht kein Meer sondern das Schnattern der Kollegen in der Küche. Dafür ist meine Arbeit sicher. Mein Zahltag kommt jeden Monat aufs Konto. Pünktlich. Planbar. Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, wie viele Aufträge ich diesen Monat noch brauche, um irgendwie über die Runden zu kommen. Ich muss mir auch nicht selber in den Hintern treten, sondern weiß genau, was ich wann, warum und in welchem Umfang zu tun habe. Wenn ich Feierabend habe, habe ich Feierabend. Wenn Wochenende ist, ist Wochenende. Und wenn ich Urlaub habe, habe ich Urlaub. Notebook aus. Telefon auf Lautlos. Qualitytime. Ohne die Angst im Nacken, dass mir das eigene Business um die Ohren fliegt.
Freiheit mal anders definiert
Mit Freiheit assoziieren wir viel zu oft die Unabhängigkeit, dort arbeiten zu können, wo wir wollen. Und das arbeiten zu können, was wir wollen. Was ist, wenn wir die Freiheit aber einfach mal anders betrachten? Wenn wir die Freiheit schätzen lernen, die uns ein langweiliger, sicherer Nine-to-five-Job gibt. Uns keine Gedanken darüber machen zu müssen, wie wir im nächsten Monat über die Runden kommen. Nach der Arbeit wirklich Feierabend zu haben. Und uns einen Urlaub gönnen zu können, in dem wir wirklich abschalten können und nicht mit dem halben Kopf noch bei unserem Selbstverwirklichungs-Business sind.
Ich sag es wie es ist: Ich liebe mein Hamsterrad. Und ich habe gar nicht das Bedürfnis, daraus auszubrechen. Daran wird auch der nächste Coach nichts ändern, der mir sagt, dass ich mein Potential nicht entfalte. Denn wenn der sich noch spät abends sein nächstes Coachingprogramm aus den Fingern saugt und überlegt, mit was er seine drei bis fünf Social Media Kanäle die nächsten Tage bespielen soll, habe ich schon längst Feierabend.
Und den verbringe ich auf dem Balkon. Vor mir ein gutes Buch, neben mir eine Flasche alkoholfreies Radler, auf dem Herd blubbert eine vegane Bolo. Alle Arbeit ist erledigt, der Hund kuschelt sich am Boden an meine Beine, durch mein Haar weht der frische Wind einer süddeutschen Kleinstadt und wenn ich die Augen schließe, hören sich die vorbei donnernden Autos fast an wie Meeresrauschen. Ist zwar nicht ganz Bali, aber hey: Auch auf Bali ist nicht alles Gold was glänzt!
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