Ich stehe in meiner Küche und betrachte das Chaos, welches ich gerade angerichtet habe. Die Arbeitsplatte ist voll Mehl, an meinem Ärmel klebt ein Stück Teig, auf dem Ceranfeld hat sich ein kleines Häufchen Zucker eingebrannt und der Hund schnüffelt auf der Suche nach einer heruntergefallenen Walnuss den Boden ab. Ich habe gebacken. Hefeschnecken mit karamellisierten Walnüssen, Zimt und Zucker. Abends um 20 Uhr. Nicht, weil ich neuen Content für den Blog oder für Instagram brauche, sondern weil meine Kollegin letztes Wochenende Geburtstag hatte und ich ihr einen Kuchen versprochen habe.
In der Mittagspause hatte ich noch kurz überlegt, ob ich auf dem Weg nach Hause einfach einen Kuchen beim Bäcker holen soll. Wer stellt sich schon gerne nach einem langen Arbeitstag abends in die Küche und fängt noch an zu backen? „Ähm, Du vielleicht?“ äfft eine Stimme in meinem Kopf und kramt längst vergessene Erinnerungen hervor: Meine Schwester und ich, wie wir für unsere Kirchengemeinde hunderte Plätzchen in Form kleiner Kirchen backen, sie in einer Engelsgeduld an meinem alten Küchentisch mit Zuckerguß verzieren, dabei Glühwein trinken und Weihnachtsmusik hören. Ich, wie ich voller Stolz den Frankfurter Kranz präsentiere, den ich ganz alleine hinbekommen habe, nachdem mir die Oma meines Mannes ihr Rezept um nichts in der Welt verraten wollte. Und mein Mann und ich, wie wir gemeinsam in der Küche stehen und ich ihm zeige, wie man Traumstücke zubereitet.
Die Stimme in meinem Kopf hat recht. Früher habe ich sowas tatsächlich gerne gemacht. Gekocht. Gebacken. Zu jeder Tageszeit. In einem Interview mit einer Tageszeitung zu meinem früheren Foodblog wurde ich mal gefragt, was mir am Kochen und Backen besonders Spaß macht. Ich habe geantwortet, dass es mich entspannt und dass ich dabei völlig abschalten kann. Hätte ich damals auch nur ansatzweise darüber nachgedacht, einen fertigen Kuchen zu kaufen, anstatt einfach selber einen zu backen? Im Leben nicht!
Ich überlege, wann sich die Tätigkeit „Kuchen backen“ von etwas Schönem zu einer lästigen Arbeit gewandelt hat. Mir fällt kein Zeitpunkt ein, aber irgendwann im Lauf der letzten Jahre ist es definitiv passiert. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich auch genau warum: Weil ich damit angefangen haben, nicht mehr aus Spaß zu backen, sondern um Content zu produzieren. Backen war plötzlich so viel mehr, als das reine Zusammenrühren von Zutaten. Noch während der Kuchen im Ofen war, saß ich vor dem Notebook, tippte das Rezept ab, schrieb eine Einleitung, bereitete mein Fotoset vor und überlegte mir, mit welchen Requisiten ich den Kuchen am besten in Szene setze. Kaum aus dem Ofen wurde fototauglich dekoriert. Anschließend folgte das Shooting, dem Shooting die Bildbearbeitung, der Bildbearbeitung die Fertgistellung des Blogsposts und kaum war das Rezept auf dem Blog online, ging es mit der Verbreitung im Netz weiter. Eine Bild für Instagram, eine Grafik für Pinterest, ein Beitrag auf Facebook, ein kurzer Tweet auf Twitter. Auf Kommentare reagieren, für Likes bedanken, Nachrichten und Fragen beantworten. Aus einer Stunde Kuchen backen waren drei Stunden Contentproduktion geworden. Und der Kuchen? Der hatte zu diesem Zeitpunkt seinen Zweck längst verloren. Stand einsam inmitten eines schön arrangierten Fotosets und wurde nicht weiter beachtet.
Ich kennen Instagramer*innen, die einen einzen Kuchen backen und damit den Content für unzählige Posts vorbereiten. Da wird ein Kuchen als Basis gebacken, dann kommt eine schöne Dekoration drauf, es werden Fotos gemacht, anschließend wird die Dekoration abgekratzt, der Kuchen neu dekoriert, weitere Fotos gemacht und so weiter und so fort. No Jokes! So weit war ich selber glücklicherweise nie, aber auch ich habe viele Dinge nur deshalb gebacken oder gekocht, weil ich sie als Content nutzen konnte. Bestenfalls sogar für mehrere Gerichte auf einmal und nur in kleinen Portionen. Effizienz ist im Social Media Business alles.
Und nun? Stehe ich also in meiner Küche und habe die fertigen Hefeschnecken vor mir. Mir schwirren Bilder durch den Kopf, wie ich sie auf meinem Fotoset arrangiere, ein paar Walnusskerne drum herum streue und eine Tasse Kaffee dazu stelle, damit das Foto möglichst lebendig wirkt. Meine Instagram-Follower würden das Rezept lieben. Vielleicht doch ein kurzes schnelles Foto? Oder ein kleines Video für ein neues Reel? Das würde super aussehen! Besonders mit den frischen Blumen, die ich vorgestern auf dem Markt gekauft habe. Von denen könnte ich bei der Gelegenheit auch noch ein paar Schnappschüsse machen. Die sind toll als Füllerbilder, wenn ich mal wieder sonst nichts zu posten habe.
Ich schiebe die Gedanken beiseite und schließe für einen Moment die Augen. Sauge den süßen, buttrigen Duft der Zimtschnecken ein, der schon fast ein wenig an Weihnachten erinnert und sage mir das Mantra auf, das ich mir für genau solche Fälle überlegt habe: „Nichts verliert seinen Wert, nur weil du es nicht auf Instagram postest„.
Angezogen vom Zimschneckenduft kommt mein Mann in die Küche. „Kann ich eine haben?“ Ich sehe die Vorfreude in seinem Gesicht und werde mit einem Mal traurig. Wann habe ich mich das letzte Mal so sehr auf etwas so banales wie eine Zimtschnecke gefreut? Einfach nur gefreut. Ohne all die Pflichten im Kopf zu haben, die noch vor dem Essen erledigen werden müssen. Und hinterher. „Klar“ sage ich, nehme eine Schnecke vom Blech und gebe sie ihm. Mir selbst nehme ich auch eine und folge ihm ins Wohnzimmer. Das Chaos in der Küche? Das ist auch morgen noch da. Und die restlichen Zimtschnecken? Ja Sorry, für euch habe ich leider kein Foto. Heute nicht. Und morgen auch nicht. Diesmal dürft ihr einfach sein, was ihr nunmal seid: Süß, buttrig, lecker und mit diesem kleinen Hauch von erster weihnachtlicher Vorfreude.