Camino Frances 2016 – Tag 3: Von Villar de Mazarife nach Astorga (33 km)

Montag, 05.09.2017 | Die Erkenntnis, wie verdammt lange 11 km sein können

Nach einer angenehmen und ruhigen Nacht wache ich gegen 5:00 Uhr putzmunter auf. Ich komme super aus dem Bett und bin ganz heiß darauf, in den Tag zu starten. So langsam frage mich wirklich, warum so viele Pilger über die Strapazen des Weges schimpfen. Sandra, Dirk und mir geht es blendend. Von einem kleinen Muskelkater in den Waden mal abgesehen. Bislang hat keiner von uns Blasen bekommen und auch die Schultern und der Rücken machen noch super mit.

Gut gelaunt klettern wir aus unseren Betten, putzen uns die Zähne, werfen uns in unsere Wanderklamotten und packen anschließend gemütlich unseren Rucksack. Auf schlafende Mitpilger müssen wir dabei keine Rücksicht nehmen, denn in unserem Vierbettzimmer haben wir gestern keinen Zuwachs mehr bekommen. Um 6:00 Uhr sind wir dann auch schon fertig und bereit zum Abmarsch. Die anderen Pilger in der Albergue de Jesus schlafen noch alle und so machen wir uns schließlich alleine auf den Weg.

Heute wollen wir uns an einer langen Etappe versuchen. 33 km bis nach Astorga steht auf dem Plan. Und weil für heute wieder Sonne und Hitze bis 35°C vorhergesagt ist, haben wir uns vorgenommen, so viel Wegstrecke wie möglich in den Vormittagsstunden hinter uns zu bringen. Das Frühstück lassen wir daher wieder ausfallen. Irgendwo auf dem Weg wird schon eine Bar oder ein Café kommen.

Den Weg aus Villar de Mazarife hinaus finden wir schnell. Im Gegensatz zu Léon ist das auch keine Kunst. So groß ist das Dorf nicht. Im Dunkeln wandern wir anschließend auf angenehmen Feldwegen durchs spanische Hinterland. Sandra setzt sich wieder ein Stück nach vorn ab und auch Dirk und ich gehen wieder ein Stück jeder für sich. Ich genieße die Ruhe und freue mich, als sich der Horizont langsam pink verfärbt und die Sonne aufgeht.

Pilgerfrühstück nach 10 Kilometern

Nach 10 Kilometern, es ist gerade erst einigermassen hell geworden, erreichen wir mit Villavante das erste kleine Dorf auf unserem Weg nach Astorga. Eine Pilgerunterkunft am Ortsanfang hat schon offen und weil ich sowieso dringend eine Pinkelpause nötig habe, steuere ich die direkt an. Sandra ist bereits dort und verkündet fröhlich, dass die Unterkunft Frühstück serviert. Für gerade einmal 5 Euro gibt es einen Cafe con Leche, frisch gepressten Orangensaft und ein Croissant. Genial. Und genau das Richtige jetzt. Wir setzen uns vor der Albergue in die Morgensonne und lassen uns das Frühstück schmecken. Danach holen wir uns den ersten Stempel des Tages für unseren Pilgerpass, füllen unsere Trinkflaschen auf und machen uns schließlich wieder auf den Weg.

Der nächste Ort, den wir erreichen, ist Hospital de Orbigo. Ein wunderschönes Städtchen, dessen Geschichte bis ins Mittelalter zurückreicht. Eine imposante Bogenbrücke überspannt den Fluss Rio Orbigo und führt zum Ortseingang und den kleinen, schnuckeligen Gassen. Viel Zeit haben wir in Hospital de Orbigo aber leider nicht und so schieße ich nur ein paar Fotos von der Brücke und lasse das Städtchen schnell hinter mir.

An diesem Vormittag kommen wir gut voran. Obwohl es mittlerweile schon ziemlich warm geworden ist und die Sonne gnadenlos vom Himmel brennt, ist das Wandern angenehm und ich habe richtig gute Laune. Die wird noch besser, als ich kurz hinter Hospital de Orbigo ein Schild entdecke, auf dem die Entfernung bis nach Astorga mit 11 Kilometern angegeben ist. „11 Kilometer sollte ja ein Klacks sein“ denke ich mir und mache mich bereits auf einen relaxten Nachmittag gefasst. Ich lache immer noch.

Der Weg beginnt zu nerven

Schon nach kurzer Zeit wird die Landschaft karg, trocken und farblos. Auf staubigen Wegen geht es zunächst bergauf und dann auf recht hügeliger Strecke durch die Pampa Kastiliens. Der Weg wird langsam anstrengend. Auch weil die Temperatur immer höher klettert und es inzwischen richtig heiß geworden ist. Ab und an kommen wir durch kleine Waldstücke, aber der Großteil des Weges liegt in der prallen Sonne. Alles ist staubig und oben drein sterbenslangsweilig. Immer öfter bleibe ich stehen und lege eine kurze Pause ein. Die Hitze, der Staub und die eintönige Strecke gehen mir tierisch auf die Nerven. Und ich habe das Gefühl, kaum vorwärts zu kommen.

Meine Laune sinkt mit jedem Schritt und ich werde langsam sauer. Gerade, als ich mir zum ersten Mal die Frage stelle, warum ich mir diese Scheisse eigentlich antue, entdecke ich in der Ferne eine Hütte. Eine Oase mitten im Nichts. Und tatsächlich ist Oase auch genau das richtige Wort, denn an der Hütte gibt es nicht nur Schatten und Platz zum ausruhen, sondern auch frisches Obst, Gemüse und Getränke. Alles umonst, bzw. auf Spendenbasis.

Als ich mich die letzten Meter bis zur Hütte schleppe, sitzt Sandra schon dort, genießt frische Melonen, Tomaten und Kaffee und hat sich auch bereits einen Stempel für den Pilgerpass abgeholt. Dirk und ich setzen uns dazu und ruhen uns ein wenig aus. Meine Motivation weiterzulaufen geht jetzt langsam gegen Null und ich habe tatsächlich absolut keine Lust mehr. Hilft aber alles nichts – die nächste Unterkunft ist in Astorga. Wir müssen weiter. Schweren Herzens lassen wir die Oase hinter uns und sind auch schon wieder ein bisschen besser gelaunt. Bis Astorga sollen es jetzt angeblich nur noch 6 km sein.

Tatsächlich sind die ersten Vororte von Astorga dann auch schon bald in Sichtweite und ich rede mir ein, dass es gar nicht mehr so weit sein kann. Wie sehr man sich doch täuschen kann. Der Weg zieht sich und nimmt einfach kein Ende. Erst geht es auf unbefestigten Wegen immer der Hauptstrasse entlang und schließlich auf einer asphaltierten Straße hinter Industrie- und Gewerbegebieten vorbei. Schön ist definitiv anders.

Sandra legt einen Zahn zu und setzt sich wieder einmal nach vorne ab. Weil ich mittlerweile richtig knatschig bin, lasse ich Dirk ebenfalls ein Stück voraus gehen. In meiner Wut kann ich Gesellschaft gerade so gar nicht brauchen. Meine Beine merke ich mittlerweile auch deutlich. Uud auch das Gewicht des Rucksacks. Alles ist irgendwie unangenehm und überall drückt und ziept es. Jetzt verstehe ich dann doch die Menschen, die ihre Stöcke am liebsten in die nächste Ecke pfeffern möchten. Exakt so geht es mir jetzt.

Des Pilgers Langeweile

Schritt für Schritt kämpfe ich mich in Richtung Astorga weiter und fange aus lauter Langeweile an, meine Schritte zu zählen. Ich weiss nicht, wie viele Schritte ich bereits gezählt habe, da liegt Astorga endlich vor mir. Nur noch ein Bahnübergang, ein Kreisverkehr und der Aufstieg zum Eingang der Stadt. Vor dem Bahnübergang wartet Dirk auf mich und als ich den Übergang sehe, steigt direkt der nächste Wutanfall in mir hoch. Eine riesige Brücke führt über die Gleise. Die im Übrigen so winzig sind, dass man mit einem großen Schritt hätte darüber springen können. Also wären sie nicht mit einem Zaun abgesperrt gewesen. Welcher Vollidiot hat sich das nur ausgedacht? Im Zickzack schleppe ich mich die Brücke hinauf und auf der anderen Seite wieder runter. Ich fluche und bin kurz vorm Heulen.

Nach dem unsinnigen Bahnübergang zieht sich der Weg zum Glück nur noch ein kurzes Stück die Straße entlang und dann ragt Astorga endlich direkt vor mir auf. Sandra und Dirk haben mich längst wieder abgehängt und deshalb kämpfe ich mich alleine Stück für Stück nach oben. Am steilsten Stück – ich habe das Gefühl, gleich umzufallen und den Berg rückwärts wieder hinunter zu rollen – kommt mir ein Trupp Fahrradfahrer entgegen. „Go, go, go“ feuern Sie mich an und ich nehme mein letztes bisschen Kraft zusammen. Nach der nächsten Kurve bin ich tatäschlich oben und steuere schnurstracks die Gemeindeherberge an. Dort haben Sandra, Dirk und ich uns für den Fall verabredet, dass wir uns verlieren.

Als ich mich völlig am Ende meiner Kräfte in die Pilgerherberge rein schleppe, ist Sandra schon da, hat uns drei bereits angemeldet und ein Vierbettzimmer mit zwei Stockbetten organisiert. Während Dirk und ich uns anmelden und unseren Stempel abholen, sitzt neben uns eine chinesische Pilgerin und weint bitter. Ihre Füße sehen grausig aus. Sie sind voller Blasen und komplett offen. Die Arme ist mit ihren Nerven richtig am Ende und ich bin froh, dass es mir verhältnismässig doch so gut geht. Zu unserem Zimmer im dritten Stock muss ich mich dann aber doch ziemlich schleppen.

Die erste Blase

Oben angekommen reisse ich mir meine Wanderstiefel von den Füßen. Wie gut das tut. Allerdings nur im ersten Moment. Ohne die Schuhe zu Gehen, ist nämlich alles andere als einfach und eine echte Qual. Der Grund wird auch schnell deutlich: Ich habe mir eine fette Blase gelaufen. Am Fußballen direkt unter meinem großen Zeh. Na Super. Mit dem Gedanken an die Chinesin von vorhin, humpele ich zur Dusche und bin froh, nur diese eine Blase zu haben. Nach dem Duschen fühle ich mich dann auch schon wieder halbwegs wie ein Mensch und lege mich für ein kurzes Nickerchen ins Bett. Fast sofort falle ich in einen tiefen Schlaf und wache erst auf, als mein Magen anfängt zu knurren.

Das Aufstehen fällt mir nach dem Schläfchen so schwer wie noch nie in meinem Leben. Mein gesamter Körper ist ein einziger Schmerz und ich schaffe es kaum, vom Stockbett hochzukommen. Sandra geht es genauso. Wie zwei alte Omis kämpfen wir uns aus den Betten und können uns kaum regen. Die Wanderstiefel anzuziehen ist ein Ding der Unmöglichkeit und so pfeiffen wir zum ersten Mal auf sämtlichen Style und schlüpfen in unsere Treckingsandalen. Mit Socken. Deutsches Klischee hoch tausend. Aber so angenehm.

Zombie-Nation

Wie die Zombies watscheln wir von der Herberge zum Marktplatz von Astorga und steuern erst einmal die Apotheke ab. Wir brauchen dringend Ibuprofen. Und Blasenpflaster. Nach dem Einkauf suchen wir uns einen Platz in einem kleinen Café direkt am Rathaus und bestellen uns ein richtig großes Abendessen. Steak mit Pommes für Dirk und Paella mit Meeresfrüchten für Sandra und mich. Das haben wir uns heute verdient. Und als Absacker direkt noch einen Krug Sangria hinterher. Am Nebentisch sitzen zwei Pilger aus Dänemark. Gerd und René. Beide haben einen großen, kalten Krug Bier vor sich und schwelgen in Glückseeligkeit. So wie wir mit unseren Sangria.

Als es draußen langsam dunkel wird, machen wir uns auf den Weg zurück zur Herberge. Hinter dem Haus setzten wir uns noch auf die Terrasse und lassen den Tag Revue passieren. Ich verarzte meine Blase mit Blasenpflaster und wir unterhalten uns mit ein paar Pilgern aus Deutschland und Österreich. Gegen 22 Uhr kehrt dann langsam Ruhe in der Unterkunft ein, wir verkriechen uns in unser Zimmer und fallen schließlich fix und alle in unsere Betten. Was ein Tag!


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