Camino Frances 2016 – Tag 2: Von Léon nach Villar de Mazarife (21 km)

Sonntag, 4.9.2016 | Die erste richtige Pilgeretappe

Wie gestern Abend eingestellt, klingelt der Wecker pünktlich um 5:00 Uhr und reisst mich aus einem überraschend tiefen und angenehmen Schlaf. Die Reise von Stuttgart über Berlin und Madrid nach Léon war im Nachhinein betrachtet doch um einiges anstrengender, als es mir gestern noch vorgekommen ist. Trotzdem bin ich direkt hellwach und topfit. Vermutlich vor lauter Aufregung und Vorfreude. Schließlich ist heute mein erster richtiger Tag als Pilger.

Ein Blick auf die Wetter-App verspricht heute Sonne und deutlich über 30°C. Sandra, Dirk und ich sind uns einig, dass wir so früh wie möglich los wollen, denn wir haben nur wenig Lust, uns später durch die sengende Mittagssonne Spaniens zu schleppen. Nachdem wir unsere Zähne geputzt und die Rucksäcke gepackt haben, sind wir um 6:30 Uhr bereit zum Abmarsch. Das Frühstück lassen wir aus. Wäre zwar im Übernachtungspreis enthalten gewesen, aber Hunger hat um diese Zeit sowieso noch keiner und wir haben ja unseren Proviant für unterwegs dabei. Außerdem sind wir jetzt richtig heiß darauf, endlich los zu kommen.

Auf Irrwegen aus der Stadt hinaus

Draussen ist es angenehm kühl und noch ziemlich dunkel. Obwohl es Sonntag ist, sind die Gassen von Léon erstaunlich voll. Ich hatte eine schlafende, friedliche Stadt erwartet. Und angenommen, dass wir drei so ziemlich die einzigen Idioden wären, die in dieser Herrgottsfrühe schon unterwegs sind. Statt dessen kommen uns scharenweise Nachtschwärmer entgegen. Entweder auf dem Weg nach Hause oder in die nächste Bar. So genau lässt sich das nicht feststellen. Wir dagegen haben nur ein Ziel: Raus aus der Stadt, rein in die Ruhe der Wildniss und endlich dieses Jakobswegfeeling spüren.

Die gelben Pfeile, die uns dabei die Richtung nach Santiago weisen sollen, sind Anfangs noch zahlreich und gut zu finden und schon nach wenigen Minuten stehen wir vor der Kathedrale von Léon. Wunderschön, wie sie so im Dunkeln majestätisch vor uns aufragt. Ein kleines bisschen bin ich traurig, dass wir es nicht geschafft haben, die Kathedrale zu besichtigen. Sie soll atemberaubend sein. Gestern Abend waren wir leider zu spät dran und die Kathedrale hatte schon geschlossen. Heute früh hat sie natürlich noch nicht geöffnet.

Ein bisschen angepisst lasse ich die Kathedrale hinter mir und stapfe weiter durchs dunkle Léon. Die Wegmarkierungen werden immer spärlicher je weiter wir uns vom Stadtzentrum entfernen und schon nach knapp 30 Minuten haben wir echte Schwierigkeiten, den richtigen Weg zu finden. Wie die Blöden irren wir durch Straßen und Gassen und sind ständig auf der Suche nach einem gelben Pfeil oder nach der Jakobsmuschel, die immer wieder auf Gehwegen und an Häusserfassaden auftaucht und anzeigt, dass man sich noch auf dem richtigen Weg befindet. Lange finden wir beides nicht. Und Menschen sind hier auch nicht mehr unterwegs, die wir hätten fragen können. Schließlich kommt aber doch noch ein einsamer Fahrradfahrer vorbei, der offensichtlich gerade vom Bäcker kommt. Er zeigt uns eine Richtung und wir folgen seinem Hinweis gerne. Ob er uns bewusst in die falsche Richtung geschickt  hat oder ob er selbst keinen blassen Schimmer hatte, bleibt ungewiss. Der Weg war auf jeden Fall falsch.

Schon ziemlich genervt und angefressen, finden wir den lang gesuchten gelben Pfeil schließlich doch. Klitzeklein versteckt er sich an der Ecke eines Hauses. Selten war ich so erleichtert. Und mit der Erkenntnis, dass wir endlich wieder auf dem richtigen Weg sind, ist meine Wut schnell verschwunden und es läuft sich auch gleich wieder viel leicher. Außerdem beginnt es zu langsam hell zu werden.

Die Wege aus Léon hinaus sind wenig interessant und ziehen sich ziemlich. Durch Industrie- und Gewerbegebiete wandern wir Richtung Stadtgrenze und landen schließlich auf einem angenehmen Weg, der leicht hügelig durch die karge Landschaft führt. Endlich aus der Stadt draußen kommt langsam endlich Pilgerfeeling auf. Meine Laune steigt und wir wandern fröhlich dem Sonnenaufgang entgegen. Ruhig ist es hier draussen. Nur vereinzelt ist ein Vogel zu hören. Und das klackern meiner Wanderstöcke. Seit langem nehme mir mal wieder die Zeit, ganz bewusst durchzuatmen und fühle, wie mich eine wunderbare Ruhe überkommt. Ja, so habe ich mir das Pilgern vorgestellt.

Sechs Kilometer hinter der Stadtgrenze meldet sich dann langsam mein Magen. Und auch Dirk und Sandra grummelt es im Bauch. Immerhin haben wir noch immer nichts gerühstückt und sind doch schon einige Zeit unterwegs. An einer kleinen Felsformation neben dem Weg legen wir unsere erste Rast als Pilger ein. Es gibt trockenes Baguette. Ausserdem etwas Schinken und Salami. Dazu Wasser. Und so minimalistisch dieses Frühstück auch ist, selten hat mir eine Mahlzeit so gut geschmeckt.

Frisch gestärkt brechen wir nach kurzer Zeit schon wieder auf. Die Sonne scheint inzwischen vom blauen Himmel und der Weg führt an prall behängten Brombeerbüschen und abgeernteten Weizenfeldern vorbei. Ab und zu huschen ein paar Wildkaninchen durchs Gras. Während ich so vor mich hin wandere, kommen mir einige Horrorgeschichten in den Sinn, die ich vor dem Abflug nach Spanien über den Jakobsweg gelesen habe. Von Menschen, die wütend ihre Wanderstöcke ins Gras geworfen haben und keinen Schritt mehr weitergehen wollten. Ich frage mich, wo diese Menschen wohl unterwegs gewesen sind. Hier, kurz hinter Léon, ist es einfach nur wunderschön. Und das Wandern macht total viel Spaß.

Am späten Vormittag haben wir schließlich schon 15 Kilometer hinter uns und langsam meldet sich bei mir der Durst nach Kaffee. Den hatte ich heute noch gar nicht und ich merke, dass ich langsam knatschig werde. Noch immer sind wir aber irgendwo im Nirgendwo unterwegs. Und weit und breit ist keine Ortschaft zu sehen. Sandra hat sich schon einige Kilometer zuvor ein Stück nach vorne abgesetzt und auch Dirk und ich gehen mittlerweile jeder für sich.

Während ich so meinen Gedanken nachhänge, muss ich plötzlich an eine Jakobswegbekannschaft von Hape Kerkeling aus seinem Buch „Ich bin dann mal weg“ denken. Die Dame hatte sich einfach beim Universum bestellt, was sie gerne möchte. Und das hat erstaunlich oft funktioniert. Ich denke mir, dass ein Versuch ja nicht schaden kann und bestelle mir beim Universum einen Kaffee. Nur einen einzigen Schritt weiter (und ich schwöre, dass es tatsächlich nicht mehr als ein Schritt war!), biege ich um eine Kurve und sehe vor mir eine Ortschaft. Und kaum habe ich die erreicht, entdecke ich mitten auf der Straße einen Schriftzug. „Bar“ steht da und ein großer Pfeil zeigt geradeaus. Das mit der Bestellung beim Universum klappt ja schonmal wunderbar.

In der Bar angekommen, reisse ich mir den Rucksack vom Rücken und bestelle mir erst einmal einen großen Cafe con leche und eine Cola. Zum ersten Mal wird mir bewusst, wie wunderbar es ist, den Rucksack los zu sein. Dabei ist er mit seinen rund sieben Kilo eigentlich gar nicht so schwer. Ich lege meine Füße hoch und strecke meine Nase in die Sonne, die mittlerweile vom wolkenlosen Himmel brennt. Heiß ist es geworden und ich bin froh, dass das Ziel unserer Tagesetappe, Villar de Mazerife, nicht mehr allzu weit ist.

Villar de Mazarife liegt auf einer Nebenstrecke des eigentlichen Jakobswegs und unser Pilgerführer hat ausdrücklich empfohlen, diesen Alternativweg zu nehmen. Ganz besonders, weil es dort eine wirklich hervorragende Pilgerunterkunft geben soll – die Albergue de Jesus. Nachdem wir uns noch eine kleine Weile mit Elke und Franz, zwei weiteren Pilgern aus Deutschland, unterhalten haben, hören wir auf den Pilgerführer und machen uns wieder auf den Weg. Bis Villar de Mazarife ist es dann auch tatsächlich nur noch ein Katzensprung und schneller als gedacht liegt das schnuckeligen Dorf vor uns. Die Albergue ist auch schnell gefunden und der Pilgerführer hat hier definitiv nicht gelogen: sie ist ein Traum. Ein wunderschönes großes Haus umrandet von einem Garten. Und es gibt sogar einen Pool. Unsere erste richtige Pilgerunterkunst und dann direkt so ein Volltreffer.

Heute sind wir die ersten Pilger, die in der Albergue angekommen waren und so haben wir keine Probleme, ein Zimmer zu bekommen. Die Hospitalera quartiert uns in einem Vierbettzimmer mit zwei Stockbetten ein, versorgt uns mit Wasser und Eis und überlässt uns dann uns selbst. Frisch geduscht nutzen wir die freie Zeit am Nachmittag um den Ort zu erkunden und unsere Proviantvorräte im nächsten Supermarkt aufzustocken. Danach geht es zum ersten Mal ans Wäsche waschen. Von Hand. Am Waschbrett. Kennt unsere Generation ja auch so gar nicht mehr. Aber es geht überraschend einfach und während unsere Unterwäsche fröhlich im heißen spanischen Wind trocknet, stecken wir unsere Füße in den Pool. Eine Flasche Weißwein darf dabei auch nicht fehlen. Und so trinken wir auf uns, auf den Jakobsweg und darauf, dass das Leben einfach schön ist.

Gegen Nachmittag füllt sich die Albergue und die Ruhe im Garten ist schnell vorbei. Außer uns haben noch ein paar weitere Deutsche, sowie einige Pilger aus Columbien, Amerika und Frankreich den Weg zu Jesus gefunden (5 Euro in die schlechte Wortwitz-Kasse!). Von meinem Liegeplatz im Garten, höre ich zwei deutschen Mädels zu, die schon seit St. Jean pied de port unterwegs sind. Sie erzählen sich Horrorgeschichten von Bettwanzen und zeigen munter ihre verstochenen Beine umher. Mir wird ein bisschen flau im Magen und ich wünsche mir vorsichtshalber beim Universum, dass es in einer Albergue mit dem Namen Jesus keine Bettwanzen gibt. Das könnt ich echt noch gebrauchen.

Als es Zeit fürs Abendessen wird, lassen wir es uns nicht nehmen, gemeinsam mit den anderen unser erstes Pilgermenü zu genießen. Für wenige Euro tischt uns die Holspitalera Zucchinisuppe, gebratene Dorade, Pommes und Torte zum Dessert auf. Dazu gibt es so viel Weißwein wie wir vertragen können. Und jede Menge lustiger Jakobsweg-Geschichten der anderen Mitpilger. So ein kleines bisschen fühlt sich das Ganze wie ein Familientreffen an. Wahnsinnig gemütlich, gesellig und einfach schön. Eine der Columbianerinnen erzählt, dass sie eigentlich vegan lebt und steckt sich dabei fröhlich ein Stück Dorade in den Mund. „I was vegan – till yesterday“ meint sie trocken und der gesamte Tisch liegt vor Lachen beinah auf dem Boden.

Nach dem Essen werde ich urplötzlich müde wie sonst noch was. Gerne wäre ich noch länger mit all diesen interessanten Menschen zusammen gesessen, aber die erste Etappe auf dem Jakobsweg fordert ihren Tribut. Auch Sandra und Dirk können sich kaum noch auf den Beinen halten und so verkriechen wir uns in unsere Schlafsäcke. Bettwanzen entdecke ich zum Glück keine und falle quasi instant ich in einen wunderbar tiefen Schlaf. Nicht einmal das Schnarchen von Dirk schafft es, mich in dieser Nacht aufzuwecken.


Lust auf noch mehr Berichte über meine Pilgerreise? Hier findet ihr alle bisher erschienenen Berichte und Tagebucheinträge übersichtlich zusammengefasst: Pilgern auf dem Jakobsweg

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