Sonntag, 11.09.2016 – Höchster Anstieg & hässlichstes Dorf
Nachdem wir gestern den Camino Duro so wunderbar gemeistert haben, steht heute gleich die nächste harte Etappe auf dem Plan: Der Aufstieg nach O Cebreiro. Mit einem Anstieg von rund 650 Höhenmetern auf ca. 10 Kilometern ist das der zweithöchste Anstieg auf dem ganzen Jakobsweg. Nur über die Pyrenäen geht es noch weiter hinauf. Aber die mussten wir aus Zeitgründen ja auslassen.
Ich wache heute gut gelaunt, wunderbar erholt und voll motiviert auf. Zum einen schwingt noch immer die Euphorie mit, dass ich mich gestern überwunden habe, den Camino Duro zu gehen. Zum anderen habe ich in unserem ruhigen Dreibettzimmer absolut phantastisch geschlafen. Über die heutige Etappe mache ich mir deshalb überhaupt keine Sorgen und habe auch keine Angst, so wie gestern. Ganz im Gegenteil: Ich freue mich sogar schon richtig drauf und kann es kaum erwarten, los zu kommen.
Als wir unsere sieben Sachen gepackt haben und bereit zum Abmarsch sind, ist von Gini und Andi weit und breit noch nichts zu sehen. Dirk, Sandra und ich beschließen, dass wir erst einmal ohne die beiden los gehen und noch auf einen Kaffee im Haupthaus bei den Buddhisten vorbeischauen. Wir haben die Hoffnung, dass die beiden in der Zwischenzeit noch auftauchen. Tun sie aber nicht und so starten wir mal wieder nur zu dritt in den Tag. Heute mal mit leckerem Kaffee, Nutellatoasts und Motivationsmusik aus dem Radio: „These Boots are made for walking“.
Um 7 Uhr marschieren wir schließlich los und der Anstieg wird schnell ziemlich steil. Aber der Weg ist wunderschön, die Luft ist angenehm und wir kommen gut voran. Schon nach rund einer Stunde erreichen wir das kleine Bergdorf La Faba. Dort gibt es eine Albergue mit Café, die von alternativen Hippies geführt wird und von außen so süß aussieht, dass wir für eine kleine Pause anhalten. Dirk und Sandra holen sich einen Kaffee und ich gönne mir einen frisch gepressten Orangensaft mit Minze. Der ist zwar ziemlich überteuert, aber mit das Beste, was ich seit langem getrunken habe. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob die „Minze“ auch wirklich Minze war.
Während wir unseren Kaffee und den Orangensaft-Wasauchimmer-Mix trinken, beobachten wir ein Wohnmobil mit deutschen Kennzeichen, welches auf dem Platz vor der Albergue versucht umzudrehen. Der Fahrer müht sich sichtlich ab, kommt aber auf keinen grünen Zweig. Dirk erbarmt sich schließlich – Fahrlehrer-Ehre – und hilft dem armen Menschen, sein Reisemobil zu wenden. Der freut sich ein Loch in Bauch, bedankt sich überschwänglich und wir machen uns langsam wieder startklar. Die gute Tat für heute wär damit auch erledigt.
Hinter La Faba geht es weiter steil bergauf in Richtung Laguna de Castila. Ich bin überrascht, wie leicht mir der Weg trotz der enormen Steigung fällt und habe extrem gute Laune. Meine Blase am Fußballen macht kaum mehr Probleme, die Landschaft ist toll, die Aussicht grandios – heute ist das Leben einfach schön. Und noch schöner wird es, als wir nach gerade mal 40 Minuten Laguna de Castila erreichen.
Schon von weitem hören wir fröhliche Musik – so eine Art Irish Folk – und legen nochmals einen Zahn zu. Die Musik kommt aus einer kleinen Bar und das trifft sich ganz wunderbar, denn es geht schon auf 10 Uhr zu. Und damit auch auf das mittlerweile traditionelle 10 Uhr Bier. Beziehungsweise mein 10 Uhr Fanta.
Wir setzen uns an einen der freien Tischen vor der Bar und entdecken an einer Straßenlaterne die Nachricht „For Rud and Sebastien: GO GO GO„. Die Idee finden wir lustig und so beschließen wir, für Gini, Andi, Gerd und René auch eine Nachricht zu hinterlassen. Gini und Andi müssten momentan irgendwo zwischen Ruitelan und La Faba sein. Gerd und René haben wir vor Ruitelan das letzte Mal gesehen. Weil René schon dort arge Probleme mit den Füßen hatte, gehen wir davon aus, dass die beiden auch noch hinter uns sind.
Wir besorgen uns einen Zettel und schreiben: „Hola Gini & Andi, Gerd & René, 10 Uhr Bier läuft! Wir sehen uns oben. These Shoes are made for walking! Moni & Dirk & Sandra„. Das „Shoes“ sollte eigentlich „Boots“ heissen – in Anlehnung an die Musik vom morgen. Aber das ist uns am Ende auch egal. Nachdem wir unsere Getränke leer haben, begutachten wir noch ein letztes Mal schmunzelnd unseren Zettel und machen uns dann an den finalen Aufstieg nach O Cebreiro.
Von Laguna sind es nur noch knapp 2,5 Kilometer bis nach O Cebreiro und wir brauchen letztendlich nur rund 40 Minuten bis das kleine Bergdörfchen fast wie aus dem Nichts vor uns auftaucht. Ich bin ganz aus dem Häusschen, denn ich habe nicht erwartet, dass wir es so schnell bis hierher schaffen. Ein klein bisschen enttäuscht bin ich aber auch, denn der Auftieg war wirklich wunderschön und ich hätte tatsächlich locker noch ein paar Stunden weiter wandern können.
Meine Enttäuschung ist schnell vergessen als wir O Cebreiro betreten. Das Dorf ist einfach traumhaft. Zum Großteil besteht O Cebreiro aus Pallozas. Das sind elliptische Hütten, die weder Fenster noch Kamine haben und mit Stroh bedeckt sind. Darüber hinaus steht in O Cebreiro mit der Iglesia Santa Maria die älteste Pilgerkirche auf dem Jakobsweg. Besonders berühmt ist O Cebreiro für ein Hostienwunder aus dem Jahr 1300, welches von der katholischen Kirche als „Wunder von O Cebreiro“ offiziell anerkannt ist.
Laut der Überlieferung soll sich ein frommer Bauer im größten Sturm den Berg bis nach O Cebreiro hochgequält haben, um dort die heilige Messe zu besuchen. Der an Gott zweifelnde Möch, der die Messe abgehalten hat, hat sich über den armen Bauer lustig gemacht. Während der Messe verwandelte sich dann aber Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi. Der Mönch war bekehrt und der Bauer wurde nicht mehr belächelt.
Ein Hostienwunder sehen wir an diesem Tag in O Cebreiro nicht. Aber wir holen uns in der imposanten Kirche einen schönen Stempel für unseren Pilgerpass. Danach lassen wir die Kirche schnell hinter uns, denn auf dem Kirchenvorplatz geht es zu wie auf einem Basar. Langsam merkt man doch, dass wir Santiago näher kommen. Es wird zunehmend touristischer und an beinah jeder Ecke will uns ein Händler irgendwelchen Schrott andrehen.
Auf unserem Weg ins „Zentrum“ von O Cebreiro rennen wir regelrecht Gerd und René in die Arme. Was eine Freude, die beiden wiederzusehen. Damit haben wir absolut nicht gerechnet. René hat sich endlich Wanderstöcke gekauft und obwohl er noch immer ein paar Probleme mit den Füßen hat, hat er es bis nach O Cebreiro hochgeschafft. Zwar über die Fahrradstrecke entlang der Straße, aber er ist oben! Eine tolle Leistung. Weil René aber trotzdem richtig kaputt ist, beschließen die beiden, heute in O Cebreiro zu bleiben. Dirk, Sandra und ich wollen aber unbedingt noch etwas weiter und verabschieden uns recht schnell. Man wird sich schon in den nächsten Tagen irgendwo wieder über den Weg laufen.
Von Gini und Andi ist bislang auch noch immer nichts zu sehen und so beschließen wir, nur noch eine kurz Rast zu machen und dann weiter zu wandern. Im Supermarkt holen wir uns Salami, Käse und ein Paar Donuts, setzen uns in die Sonne und genießen bei wundervoller Aussicht unser Essen. Anschließend packen wir zusammen und lassen O Cebreiro hinter uns.
Durch hügelige aber wunderschöne Landschaft wandern wir für rund anderthalb Stunden weiter. Zunächst sind wir noch guter Laune. Besonders, als wir plötzlich vor dem Grenzstein zu Galizien stehen. Jetzt sind wir tatsächlich nicht mehr in der Provinz Léon, sondern in Galizien. Und bis Santiago sind es nur noch 160 Kilometer. Ein grandioses Gefühl. Die Euphorie lässt aber ziemlich schnell wieder nach. Zumindest bei mir. Inzwischen ist es nämlich wieder mal richtig heiß geworden und die Sonne brennt gnadenlos vom Himmel. Das macht den Weg nun doch ziemlich anstrengend, zumal er nach ein paar Kilometern wieder sehr ansteigt.
Als am Horizont ein Dorf auftaucht, beschließe ich für mich, dass es für heute langsam gut ist. Weiter mag ich nicht mehr. Sandra und Dirk allerdings schon, schließlich sind wir heute erst ca. 15 Kilometer weit gekommen. Ich schaffe es, die beiden zu einer Rast in der Bar des Dorfes zu überreden und ein Blick in unseren Pilgerführer offenbart dort böses: Bis zum nächstmöglichen Dorf geht es nochmals richtig steil hoch. Jetzt bin ich definitiv raus und verkünde, dass ich heute nicht mehr weiterlaufen will. Wir beschließen, uns die örtliche Albergue mal anzuschauen und treffen auf dem Weg dorthin die Gruppe Holländer, die gestern in Ruitelan mit uns zu Abend gegessen haben. Sie haben sich ebenfalls dazu entschieden, heute in Hospital zu bleiben. Die Albergue ist schlicht aber sauber und zu meiner großen Freude stimmen Sandra und Dirk schließlich zu, doch hier zu bleiben.
Außer der Bar gibt Hospital da Condesa nicht wirklich viel her und ist auch nicht sonderlich schön. Insgeheim bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich um nichts in der Welt weitergehen wollte. Ganz besonders, als Sandra ein paar angekettete Hunde entdeckt, die kurz vor dem verdursten sind. Alles in allem ist es hier tatsächlich ziemlich ätzend. Den Rest des Tages verbringen wir deshalb abwechselnd in der Albergue und in der Bar. Zum Abendessen gibt es einen großen gemischten Salat für Sandra und mich, sowie ein Steak mit Pommes für Dirk. Danach verkümeln wir uns relativ früh in unsere Betten und stellen uns auf eine recht ungemütliche Nacht ein. Es gibt nämlich nur einen großen Schlafsaal für insgesamt 20 Pilger. Das kann ja heiter werden.
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