Camino Frances 2016 – Tag 8: Von Villafranca nach Ruitelan (ca. 22 km)

Samstag, 10.09.2016 – Bettwanzen & das große Glück hoch oben auf dem Berg

Nach dem entspannten Tag gestern und meinem extrem ausgiebigen 12-Stunden-„Nickerchen“, bin ich heute wieder mal sehr früh wach. Draußen ist es noch dunkel und die meisten Mitpilger in der Albergue schnarchen noch friedlich. Leider ist mir über Nacht noch immer kein Licht aufgegangen, ob ich heute wirklich den Camino Duro gehen soll oder doch lieber die einfache Strecke durchs Tal nehme. Meiner Laune ist das nicht wirklich zuträglich und ich verfalle beim Packen und bei der Morgenwäsche wieder einmal ins Trödeln. Hauptsache den Abmarsch so lang als möglich hinauszögern.

Als Dirk, Sandra, Gini und Andi langsam aus ihren Betten kriechen, stellt sich heraus, dass sich Gini zwecks der heutigen Etappe ebenfalls unsicher ist. Genau wie ich hat sie sich noch nicht entschieden, welchen Weg sie nehmen soll. Ich bin heilfroh, dass ich nicht die einzige bin, die vor dem Camino Duro so großen Respekt hat und vereinbare mit Gini, das wir das Ganze einfach auf uns zukommen lassen. Entscheiden können wir uns schließlich auch noch spontan wenn es so weit ist. Zuerst wollen wir aber Frühstücken. In Kühlschrank der kleinen Küche haben wir gestern Brot, Salami, Karamellpudding und Trinkschokolade gebunkert und deshalb gibt es heute ausnahmsweise vor dem Abmarsch was zu essen. Das bin ich gar nicht mehr gewohnt. Es ist aber phantastisch. Und vermutlich heute gar nicht so verkehrt.

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Bettwanze oder keine Bettwanze?

Während wir uns das Frühstück schmecken lassen, entdeckt Gini an ihrem Rucksack einen kleinen schwarzen Käfer und bekommt sofort Panik, dass es sich um eine Bettwanze handeln könnte. Wir nehmen das Tierchen genau in Augenschein, googeln uns die Finger wund und sind danach trotzdem noch immer nicht schlauer. Weil Bettwanzen grundsätzlich aber gemeldet werden müssen, alarmiert Gini vorsichtshalber die Hospitalera. Die ist nicht gerade begeistert und sichtlich genervt. Trotzdem nimmt sie das arme Tierchen gemeinsam mit uns nochmals unter die Lupe. Am Ende ist sich die Hospitalera sicher, dass es sich nicht um eine Bettwanze handelt und wir sind erleichtert. Das hätte uns jetzt gerade noch gefehlt. Gini ist sich aber nach wie vor sicher, dass es doch eine war und will vorsichtshalber lieber schnell aus der Albergue raus. Die Entscheidung „Camino Duro – ja oder nein“ rückt damit näher und näher. Mir ist zwischenzeitlich schon ziemlich flau im Magen und so stapfe ich ganz besonders wiederwillig in die Nacht hinaus.

Den Weg aus Villafranca hinaus finden wir an diesem Morgen schnell. Es sind kaum Menschen unterwegs und auch Fahrzeuge sehen wir kaum. Sehr viel schneller als mir lieb ist, trennt uns schließlich auch schon nur noch eine schmale Straße von der Abzweigung zum Camino Duro. Zwischen ein paar Häusern führt eine steinige Straße voll Schlaglöcher rechts den Berg hinauf und verschwindet schließlich im Wald.  Das Ganze sieht wenig einladend aus. Grad so als könnte man sich hier wunderbar den Hals brechen, von Wilderern überfallen oder von Hunden gefressen werden. Womöglich sogar alles zusammen.

Über den Berg oder entlang der Autobahn?

Da stehe ich nun also vor der Abzweigung und bin mir nicht ganz sicher, ob ich lachen oder weinen soll. Die Stunde der Entscheidung ist gekommen. Dirk und Andi wollen unbedingt den Camino Duro gehen. Sandra auch. Die drei hat wohl der Ehrgeiz gepackt, nachdem Hape Kerkeling nur die fürchterlichsten Schauergeschichten über diese Etappe geschrieben hat. Die er im Übrigen selbst gar nicht gegangen ist – die Memme. Gini und ich schauen uns noch unschlüssig an, während Dirk, Sandra und Andi schon über die Straße spurten. Ich kann nicht recht abschätzen was Gini denkt, aber als ich nochmals auf den steilen Anstieg blicke, entscheide ich im Bruchteil einer Sekunde, dass ich da jetzt auch hoch will. Völlig überrascht von mir selbst stapfe ich los. Bevor ich es mir noch anders überlege. Und auch Gini trottet schließlich hinterher. Mitgehangen, mitgefangen.

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Die ersten 15 Minuten geht es über felsige Waldpfade wirklich sehr steil bergauf. Insgeheim verfluche ich mich selbst schon für die Entscheidung, mich hier hochzuquälen. Warum ich mir so eine Scheisse überhaupt antue, frage ich mich gefühlt alle fünf Sekunden. Es ist dunkel. Es ist kalt. Es ist steil. Und alle paar Sekunden zerrt ein Ast an meinen Klamotten. Meditativ ist an diesem Weg heute rein gar nichts und das Gehen im Dunkeln nervt mich zum ersten Mal. Sonst fand ich das ja eher gut. Mein einziger Lichtblick ist die Tatsache, dass ich im spärlichen Licht meiner Stirnlampe gar nicht sehe, wie furchtbar steil der Weg ist und wie weit es noch hoch geht. Lediglich an meinen Waden merke ich den Anstieg. Und an meinen Lungen. Ich keuche nämlich wie selten zuvor.

Unerwartete Schönheit

Gerade als meine Laune den Tiefpunkt erreicht hat und ich mir ernsthaft überlege doch wieder umzudrehen, wird der Weg plötzlich flacher. Der Wald lichtet sich und überrascht stelle ich fest, dass wir schon ziemlich weit oben sind. Am Horizont wird es langsam hell, hinter uns glitzern die Lichter von Villafranca in der Dämmerung und unter uns schlängelt sich klitzeklein die Autobahn durchs Tal. An den Hügeln auf der gegenüberliegenden Talseite wüten mehrere Waldbrände und tauchen die Landschaft in gespenstisches Licht. Es ist faszinierend, beängstigend und gleichzeitig wunderschön. Während ich so dastehe und die Flammen beobachte, fühle ich auf einmal eine tiefe Ruhe und einen inneren Frieden. Ich bin einfach glücklich und war vermutlich nie zuvor mehr im hier und jetzt als an diesem Morgen irgendwo in der Einsamkeit des Camino Duro.

Von dem spektakulären Blick über das Tal kann ich mich schließlich kaum loseisen. Aber es hilft ja alles nichts. Wir müssen weiter. Mal steiler, dann wieder angenehm flach geht es weiter den Berg hinauf und der Weg fängt an, mir richtig Spaß zu machen. Die Landschaft ist wunderschön und wann immer ich auf die Autobahn hinunter schaue, bin ich froh, dass ich mich doch für den Camino Duro entschieden habe. Der Weg entlang der Autobahn wäre wirklich grausig gewesen. Gini hat mit dem Camino Duro leider größere Probleme als ich und fällt immer weiter zurück. Andi übernimmt schließlich ihren Rucksack und wir vereinbaren, dass Sandra, Dirk und ich schon einmal vorgehen. An einer Abzweigung biegen wir dann direkt falsch ab und landen auf einem kleinen Umweg. Der stellt sich allerdings als wahrer Glücksfall heraus, denn der Weg führt uns durch herrliche Kastanienwälder ins kleine Bergdörfchen Pradela.

Kastanienwälder und unser ganz persönlicher Stempel

Pradela besteht aus einigen Häusern, sowie unzähligen Gärten in denen jedes erdenkliche Gemüse wächst. Und es gibt eine Bar. Nach den 9 Kilometer, die wir mittlerweile schon unterwegs sind, kommt uns die gerade recht. Wir bestellen uns einen Café con Leche, sowie ein Stück Kuchen und setzen uns auf die Terrasse in die Sonne. Nach kurzer Zeit gesellen sich ein Hund, ein paar Katzen und drei Mädels aus Augsburg zu uns. Die sind bereits seit St. Jean unterwegs und wir lassen uns gerne von den Etappen erzählen, die wir leider versäumt haben. Bevor wir wieder aufbrechen, wollen wir uns in der Bar noch einen Stempel für unseren Pilgerpass geben lassen. Leider hat die Bar aber gar keinen offiziellen Stempel und so malt die nette Besitzerin uns freundlicherweise von Hand was in den Pass: Eine Berglandschaft inklusive Pilger mit Wanderstock. Dirk bekommt einen Pilger mit kurzen Haaren. Sandra und ich eine Pilgerin mit Pferdeschwanz. Sehr süß.

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Nach Pradela haben wir das schlimmste Stück des Camino Duro dann auch schon überstanden und es geht wieder abwärts. Durch Kastanienwälder wandern wir auf angenehmen Wegen die 4 Kilometer bis Trabadelo hinunter, wo der Camino Duro wieder auf den Hauptweg trifft. Mittlerweile sind wir froh, dass wir diesen nicht genommen haben, denn ausnahmslos jeder der dort unterwegs war, ist wegen den Autos, dem Lärm und dem Dreck schwer genervt. Mit Gini und Andi haben wir vereinbart, dass wir uns in Trabadelo wieder treffen und glücklicherweise wir finden wir die beiden auch recht schnell. Gemeinsam legen wir nochmals Rast in einer Pilgerunterkunft ein und überlegen, wo wir heute übernachten sollen. Wir einigen uns schließlich auf Ruitelan. Bis dorthin sind es noch 9 Kilometer und es soll dort eine phantastische Herberge geben, die von zwei Buddhisten geführt wird.

Der Weg bis nach Ruitelan kann es mit dem Camino Duro nicht im geringsten aufnehmen und führt fast ausschließlich an der Straße entlang. Wirklich schön ist anders. Dazu kommt, dass es zwischenzeitlich auch mal wieder richtig heiß geworden ist. Jeder in seinen eigenen Gedanken versunken schlurfen wir über den Asphalt und wollen nur noch in Ruitelan ankommen. Sandra setzt sich einmal mehr an die Spitze und ist ziemlich schnell verschwunden. Gini, Andi, Dirk und ich bilden die Nachhut, aber Gini und Andi fallen schon bald noch weiter zurück. Gegenüber einer Raststätte treffen Dirk und ich überraschend Claudia und Nancy, die beiden Pilger aus Kolumbinen, mit denen wir am ersten Pilgertag in der Albergue de Jesus zusammen gegessen haben. Sie machen sich darüber lustig, dass unser Speedy-Gonzales – also Sandra – mal wieder alle abgehängt hat. Wir bleiben kurz auf einen kleinen Tratsch stehen, marschieren dann aber ziemlich schnell wieder weiter.

In Vega de Valcare, rund 2,5 Kilometer vor Ruitelan, treffen wir Sandra wieder. Sie sitzt in einer Bar, streckt die Füße in die Sonne und genießt ein kühles Bier. Bei ihr sind Gerd und René, die wir nach Sandras Geburtstagsfeier in Camponaraya zurückgelassen und seither nicht mehr gesehen haben. Die Freude ist groß und so setzen wir uns dazu und genehmigen uns nochmals eine kurze Rast. Anschließend nehmen wir gemeinsam mit Sandra die letzten paar Kilometer in Angriff.

Wenn die kleinen Dinge glücklich machen

Am späten Nachmittag erreichen wir endlich Ruitelan. Gini und Andi, die wir irgendwo nach Trabadelo mal wieder verloren haben, sind schon da und warten vor der Albergue auf uns. Keine Ahnung wann und wo sie uns überholt haben. Vermutlich, als wir mit Gerd und René in der Bar gesessen und in unser Biere vertieft waren. Gini will heute unbedingt ein Doppelzimmer für sich und Andi alleine. Und auch Sandra, Dirk und ich haben heute keine große Lust auf Stockbetten im Gemeinschaftsraum. Wie es der Zufall will, verfügt die Albergue neben dem Haupthaus über ein zweites Gebäude, in dem es zwei Doppelzimmer und ein Dreibettzimmer für je 15.- Euro pro Person gibt. Wir schlagen direkt zu und werden von einem der beiden Hospitaleros zu einem schnuckeligen kleinen Haus am Ortseingang geführt. Es liegt herrlich im Grünen, hat einen Gemüsegarten auf der Rückseite, eine Terrasse und ein kleines Bächlein, welches munter am Haus vorbei plätschert. Überglücklich beziehen wir unsere Zimmer. Jeder hat ein richtiges Bett für sich alleine. Mit Bettdecken. Und jedes Zimmer hat sein eigenes Bad. Ein Traum.

Nachdem wir uns eingerichtet und geduscht haben, waschen wir kurz unsere Wäsche am Waschbrett hinter dem Haus, hängen alles in die sengende Sonne und setzen uns dann an den kleinen Bach. Mit unseren nackten Füßen im kalten Wasser fühlen wir uns wie die Könige der Welt und sind einfach nur happy. Gini ist nach dem Marsch über den Camino Duro allerdings ziemlich kaputt und legt sich lieber eine Runde schlafen. Dirk, Sandra, Andi und ich sind dagegen komplett aufgedreht und außerdem haben wir ein wenig Hunger.

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Ohne Gini machen wir uns auf den Weg zur benachbarten Bar. Dirk und Andi bestellen sich Bocadillos mit Bacon und Bier. Sandra und ich Weißwein und eine rustikale Linsensuppe mit viel Gemüse. Die Suppe wird in einem großen Topf serviert und schmeckt göttlich. Wir essen wie die Blöden, aber als wir pappsatt sind, ist der Topf noch immer beinah halb voll. Wie hungrig müssen wir bitteschön ausgehen haben? Sowohl Sandra als auch ich bekommen schließlich keinen Bissen mehr herunter, aber Andi erbarmt sich und macht den Topf doch noch leer.

Kein Wunder, dass Buddha so einen Bauch hat

Später beim Pilgermenü erweist es sich als ziemlich unklug, dass wir es uns in der Bar so sehr haben schmecken lassen. Die beiden Buddhisten tischen Unmengen an Essen auf. Zuerst gibt es eine Karottencremesuppe, gefolgt von riesigen Salatplatten mit frischen Tomaten, Oliven und Mozzarella. Als wäre das nicht genug, wird anschließend schüsselweise Spaghetti Carbonara aufgetischt und zum Nachtisch gibt es Vanillepudding.

Die ganze Runde stöhnt und ich muss unweigerlich an die Folge „Mr.Bean“ denken, in der dieser im Restaurant sitzt und versucht, sein Steak Tartar loszuwerden. So ähnlich sieht das bei uns auch aus. Einer der anderen Pilger schüttet sich sogar direkt seine Karottensuppe über die Hose. Hilft aber nix, denn der Teller ist schneller wieder aufgefüllt, als der Arme „bitte nicht“ sagen kann. Bei den Spaghetti angekommen, sind wir alle schließlich schon so voll, dass wir streiken wollen. Das lassen die Buddhisten allerdings nicht gelten. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Wir kämpfen uns also irgendwie bis zum Nachtisch durch und danach bin ich mir sicher, die nächsten drei Tage nichts mehr essen zu können.

Gerne wäre ich nach dem Essen noch mit den anderen Pilgern zusammengesessen. Es sind ein paar lustige Holländer dabei und ich bin mir sicher, dass ein Abend mit denen richtig toll wäre. Leider fordert das üppige Essen aber schnell seinen Tribut. Ich werde müde wie sonst was. Und den anderen geht es auch nicht besser. Schweren Herzens verabschieden wir uns von der netten Truppe, spazieren zu unserem Häusschen (das wir diese Nacht tatsächlich komplett für uns alleine haben) und verkriechen uns schon um 20:45 Uhr in unsere Betten.

Vor dem Einschlafen schweifen meine Gedanken noch einmal zur heutige Etappe zurück. Das war also der berühmt-berüchtigte Camino Duro. Der „schwere“ Weg, von dem so viele Schlimmes berichten und bei dem ausdrücklich empfohlen wird, ihn nur dann zu gehen, wenn die Kondition super ist. Am besten auch noch ohne den Rucksack. Ich muss ein wenig schmunzeln. Nein falsch, ich muss sogar ziemlich lachen und bin mir sicher, dass die Geschichten über den Camino Duro nichts anderes als Marketingmaßnahmen für eine Gepäcktransportfirma sind. Tatsächlich war der Camino Duro bisher der schönste Streckenabschnitt, den wir auf dieser Pilgerreise gegangen sind. Mit Abstand! Und er war bei weitem nicht einmal ansatzweise so schwer, so gefährlich und so anstrengend, wie immer behauptet wird.

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Mit den Gedanken noch immer in den Kastanienwäldern hoch oben auf dem Camino Duro schlafe ich schließlich ein. Morgen steht die nächste Bergetappe zum Dörfchen O Cebreiro an. Und ich kann ohne zu flunkern sagen „ja, da freue ich mich drauf“!


Lust auf noch mehr Berichte über meine Pilgerreise? Hier findet ihr alle bisher erschienenen Berichte und Tagebucheinträge übersichtlich zusammengefasst: Pilgern auf dem Jakobsweg

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