Samtag, 03. September 2016 | Es geht los
Draussen ist es dunkel. Meine übliche Zu-Bett-Geh-Zeit ist schon lange vorbei. Anstatt zu schlafen, sitze ich auf dem Sofa und kämpfe gegen eine Mischung aus Müdigkeit und Nervosität. Heute beginnt ein ganz neuer Abschnitt in meinem Leben. Ab heute bin ich ein Pilger. Und meine Reise nach Santiago de Compostela beginnt exakt jetzt. Wobei eigentlich noch nicht ganz, denn noch bin ich zu Hause. Erst Mitten in der Nacht um 3:30 Uhr geht es los in Richtung Flughafen. Und die Zeit zieht sich quälend langsam dahin.
Hab ich auch wirklich nichts vergessen?
Der Zeiger auf der Uhr kommt kaum vorwärts und um mich zu beschäftigen checke ich zum ungefähr hundertsten Mal meinen Rucksack. Alles was ich vor ein paar Minuten ordentlich in den Rucksack rein gepackt habe, werfe ich wieder aus, verteile es auf den Boden und hake meine Checkliste nochmal ab. Nur um festzustellen, dass immer noch alles da ist. Anschließend packe ich alles wieder in den Rucksack zurück: Schlafsack und Wandersandalen ganz nach unten, Jogginghose, T-Shirts, Mikrofaser-Handtuch und Regencape darüber. Unterwäsche, Socken, Ladekabel und Powerbank stopfe ich in die Zwischenräume. Waschzeug, Pflaster, Seife & Co kommt in einem Zip-Beuteln oben drauf. Der Pilgerpass, mein Ausweis, die Kreditkarte und das Bargeld finden ihren Platz im Brustbeutel. Und die Trinkflasche wird außen an den Rucksack gehängt. Alles da. Alles an seinem Platz. Wie die letzten vier Mal auch schon. So kann man sich auch eine Packroutine erarbeiten. Die Wanderstöcke habe ich übrigens nicht vergessen. Die sind längst mit Stretchfolie fest an Dirks Rucksack geschnürt. Zur Gepäckaufgabe am Flughafen. Stöcke mit Metalspitzen kommen nicht so gut im Flieger.
Zeitvertreib mitten in der Nacht
Um mir die Zeit bis zur Abfahrt an den Flughafen weiter zu vertreiben, schnappe ich mir einen unserer Pilgerführer. Den habe ich zwar schon zig mal durchgelesen, aber vielleicht finde ich ja noch einen Buchstaben, den ich bisher übersehen habe. Hauptsache ich kontrolliere meinen Rucksack nicht auch noch ein sechstes Mal. Bei der Passage über Léon bleibe ich hängen. Ist schließlich auch unser Startpunkt und da muss man sich ja ausgiebig informieren. León, ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in Kastilien und unser Tor zur Welt. Ok, nicht zur ganzen Welt, aber immerhin unser Tor zum Camino. Bis Santiago de Compostela sind es von Léon rund 380 km und bis zum Rückflug haben Dirk, Sandra und ich 18 Tage Zeit. Summa Summarum macht das eine durchschnittliche Wegstrecke von 22 km pro Tag. Ganz schön viel, wenn man bedenkt, dass wir im Alltag meist nicht mehr als maximal 5 Kilometer zusammen bekommen. Eher sogar weniger. Sollte aber trotzdem machbar sein. Schließlich hat es der dicke Hape ja auch geschafft.
In den letzten Wochen vor der Abreise hatte ich mir noch großspurig vorgenommen, ein paar Probewanderung zu unternehmen. Mit vollem Marschgepäck. Ein Gefühl für das Gewicht auf meinen Schultern wollte ich bekommen. Und auch für die Länge der Wegstrecken. Am Ende hab ich nur eine einzige Wanderung geschafft. Die aber gleich über 28 Kilometer. Bei hochsommerlicher Affenhitze und mit knapp 10 Kilo Gewicht auf dem Rücken. Eigentlich war das auch gar nicht so schlimm. 22 Kilometer pro Tag sollte da ja ein Klacks sein.
Abfahrt zum Flughafen – Jetzt geht´s los
Wie ich noch so über die Wegstrecken und das Gewicht meines Rucksacks grübele, klingelt es an der Tür. Mein Stiefvater ist da – unser Taxi zum Flughafen. Die knapp 45 Minuten Fahrt nach Stuttgart bekomme ich kaum mit, weil mir die durchgemachte Nacht jetzt doch ziemlich in den Knochen steckt. In einem wenig erholsamen Halbschlaf träume ich von Muskelkater und Schmerzen und von Blasen an den Füßen. Das geht ja schonmal gut los.
Stuttgart – Berlin | Berlin – Madrid
Am Flughafen folgt eine kurze Verabschiedung auf dem Parktplatz vor dem Terminal und dann machen wir uns direkt auf die Suche nach dem Check-In Schalter. Zwischen all den Mallorca-Pauschaltouristen mit ihren dicken Koffern stechen wir mit unseren orangenen Rucksäcken ziemlich heraus und ich werde das Gefühl nicht los, dass uns der ganze Flughafen anstarrt. Grad so, als würde es uns auf der Stirn stehen, was wir vorhaben und wohin wir reisen. Tut es aber natürlich nicht und vermutlich ist es jedem anderen auch herzlich egal. Ich selber komme mir aber wie ein Abenteurer vor und fühl mich ziemlich groß. Und dann stehe ich plötzlich vor dem Flieger und fühle mich wieder ganz klein und ängstlich. Auf dem Rollfeld steht eine winzige Propellermaschine mit gerade mal 35 Sitzplätzen. Die soll uns erst einmal nach Berlin bringen. Das war billiger, als direkt von Stuttgart nach Spanien zu fliegen. Von Berlin – sofern wir mit diesem winzigen Flugzeug überhaupt dort ankommen – geht es dann mit einem normalen Linienflug weiter nach Madrid. Und von dort noch einmal fünf Stunden mit dem Reisebus weiter nach Léon.
Weizenfelder / sengende Sonne / 37°C
Die Flüge sind zum Glück ruhig, angenehm und recht schnell vorbei. Selbst der Flug in der Propellermaschine. Die Fahrt im Bus ab Madrid ist dagegen ätzend. Unspannend, anstrengend und unbequem oben drein. Eine gefühlte Ewigkeit fahren wir bei teilweise 37°C auf meist schnurgerader Straße durch die spanische Pampa. Weizenfeld um Weizenfeld rauscht an uns vorbei und das Ganze fühlt sich noch so überhaupt nicht nach pilgern an. Gerade, als die ganze Welt nur noch aus goldgelbem Weizen und sengender spanischer Sonne zu bestehen scheint, sind wir aber plötzlich da. Vor uns liegt Léon. Und der Busfahrer wirft uns mit dem ersten „Buen Camino“ an der Estación De Autobuses De León heraus.
Angekommen
Aus dem Bus draussen stehen wir ziemlich verloren am Busbahnhof und wissen nicht so recht, was wir jetzt mit uns anfangen sollen. Keiner von uns hat eine Ahnung, wohin wir müssen. Wie gern wir jetzt ein Navi hätten. Die Leute um uns herum sind auch nicht sehr hilfreich und es es scheint niemand sonderlich zu interessieren, dass die drei Neu-Pilger aus Deutschland keinen Plan von gar nix haben. Gott sei Dank entdecken wir dann aber ziemlich schnell den ersten gelben Pfeilen. Und ganz langsam macht sich ein kleines bisschen Pilgerfeeling breit. Wir folgen dem Pfeil und landen tatsächlich nach kurzer Zeit in der quirrligen Innenstadt von Léon.
Als erste Unterkunft haben wir uns gegen eine der üblichen Alberques entschieden und statt dessen ein Dreibettzimmer in einem wunderschönen alten Kloster gebucht. Sicher ist sicher. Unsere erste Tour wollen wir so ausgeruht wie möglich beginnen. Außerdem sind wir noch nicht so wirklich bereit, mit zig anderen verschwitzen Pilgern in einer Massenunterkunft zu schlafen.
Die Senora am Empfang des Klosters freut sich sehr über unser Kommen und begrüßt uns ein bisschen überschwänglicher als nötig. Dass wir ihr Spanisch keinen Meter verstehen, begeistert sie allerdings weniger. Und wir finden es auch nicht gerade praktisch, dass die gute Frau kein einziges Wort Englisch spricht. Mit Händen und Füßen verständigen wir uns aber schließlich irgendwie doch. Sie gibt uns den Zimmerschlüssel und knallt uns den ersten Stempel in unsere Pilgerpässe. Jetzt sind wir also ganz offiziell Jakobspilger. Läuft!
Neupilger vs. Altpilger
Nachdem wir unser Zimmer bezogen und die Rucksäcke in die nächstbeste Ecke gepfeffert haben, stürzen wir uns in das Getümmel von Léon. Planlos lassen wir uns ein bisschen durch die Gassen treiben und entdecken dabei auch die ersten Pilger, die schon eine anstrengende Tagesetappe hinter sich haben. An der einen oder anderen Ecke wird über uns getuschelt. Das ist aber auch ein Wunder: Unsere Wanderstiefel sind noch komplett sauber und sehen viel zu neu aus. Dadurch sind wir sofort als Neu-Pilger geoutet. Stört uns aber nicht sonderlich. Schließlich muss jeder irgendwo mal anfangen und nicht jeder hat die Zeit, den kompletten Weg ab Seant-Jean zu gehen.
Nachdem wir in einem Supermarkt kurz etwas Proviant für den ersten Pilgertag morgen gekauft haben, landen wir auf ein Bier in einem kleinen Café direkt gegenüber unserem Hotel. Tapas gibt es gratis dazu. Das ist in Spanien ja zwar normal, aber wir wir freuen uns trotzdem wie die kleinen Kinder an Weihnachten. Besonders lange halten wir es in dem Café trotzdem nicht aus. Für unsere Verhältnisse sehr früh, verschwinden wir im Klosterhotel und kriechen in die Betten. Morgen wartet die erste richtige Pilgeretappe auf uns. Und der Wecker ist auf 5:00 Uhr gestellt.
Lust auf noch mehr Berichte über meine Pilgerreise? Hier findet ihr alle bisher erschienenen Berichte und Tagebucheinträge übersichtlich zusammengefasst: Pilgern auf dem Jakobsweg
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