„Kalt ist es heute und doch bin ich gerne aufgestanden. Die letzte Nacht haben wir in einer diesen Massenunterkünfte verbracht, die wir auf den übrigen 300 Kilometern so gerne gemieden hatten: Ein kalter, steriler Raum, Stockbett an Stockbett und jede Menge Mitpilger, die in ihren knarrenden Betten schnarchen. Nicht gerade das, was man sich unter schöner Pilgeridylle vorstellt. Geschlafen habe ich trotzdem gut. Und voller Tatendrang bin ich noch vor dem Wecker aus dem Bett geklettert. Santiago de Compostela, das Ende meiner Pilgerreise, liegt heute in greifbarer Nähe. Nur noch zehn Kilometer. Gleich hinter dem Monte de Gozo. Ein Katzensprung…“
Ein Jahr ist es mittlerweile her, dass ich im kühlen Morgenwind auf der Terrasse der Pilgerherberge in Lavacolla saß, den Sonnenaufgang beobachtete und diese Zeilen in mein Smartphone getippt habe. Wie sich dieser Moment angefühlt hat, weiß ich noch ganz genau. Es war eine ganz merkwürdige Mischung aus Vorfreude, Wehmütigkeit und Trauer. Ich wollte unbedingt endlich in Santiago ankommen. Und gleichzeitig auch nicht.
Ankommen wollte ich aus dem Grund endlich, weil ich auf dem Jakobsweg über mich selbst hinaus gewachsen war. Und weil es in diesem Moment, auf diesem wackligen alten Plastikstuhl auf einer schäbigen Terrasse im spanischen Hinterland nichts mehr gab, was ich noch mehr erreichen wollte.
Gleichzeitig hat mir das Ankommen in Santiago aber auch Angst gemacht. Auf dem Kathedralenplatz zu stehen, ist so viel mehr, als einfach am Ziel seiner Reise zu sein. Dort anzukommen ist gleichbedeutend mit einem schmerzhaften Auseinandergehen. Man muss sich nicht nur von der grenzenlosen Freiheit des Weges trennen, sondern auch von all den Erfahrungen, den Wundern und vor allem auch von all den Freundschaften, die auf dem Weg enstanden sind. Da kann man schon einmal wehmütig werden.
Heute, ein Jahr nach meinem Ankommen in Santiago, hat mich mein Alltag längst wieder gefangen. Statt auf einer spanischen Hinterhofterrasse sitze ich im Zug und fahre durch das triste graue Remstal ins Büro. In Gedanken stehe ich aber am Monte de Gozo und lasse meinen Blick noch einmal ehrfürchtig über Santiago schweifen. Und ich rufe mir all all die Erlebnisse, all die neuen Freundschaften und all die magischen Augenblicke meiner Pilgerreise nochmals ins Gedächtnis.
Und während ich lächelnd an die Jakobsmuschel denke, die seit einem halben Jahr bunt über meinem Herzen prangt, fühle ich eines ganz genau: Grenzenlose Vorfreude. Noch ein halbes Jahr, dann hat mich der Camino wieder. Und ich bin schon heute gespannt, mit welchen Wundern er mich dieses Mal überraschen wird. Vielleicht bekomme ich bis dahin ja auch mein Buch mal fertig ;)
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