Die Geschichte vom kleinen gelben Blatt und dem Tanz im Herbstwind

leaves hang on rope

Draussen vor dem Wohnzimmerfenster tanzen die letzten gelben Blätter im Nebel. Der Baum auf der gegenüberliegenden Seite der Straße ist schon fast kahl. Ein paar wenige Blätter klammern sich noch daran aber der kalte Wind wird sie bald abschütteln, so dass sie sich dem Tanz der anderen Blätter anschließen können. Ich bekomme von diesem Naturschauspiel kaum etwas mit. Und wenn doch, dann nicht weil ich aus dem Fenster schaue oder in der Natur unterwegs bin, sondern weil ich auf das Display meines iPhones starre.

Der späte Herbst auf Instagram ist schön. #Cozymoments lese ich unter einem Bild von einem aufgeschlagenen Buch auf einer kuscheligen Decke. Eine Kerze brennt, eine Tasse Tee dampft und Herbstblätter in den buntesten Farben leuchten um die Wette. „So schön gemütlich hätte ich es jetzt auch gerne„, kommentiere ich, gebe dem Bild ein Like und ziehe weiter. Das nächste Bild im Feed zeigt Weihnachtsplätzchen, die fröhlich aus einer Tasse purzeln. Darunter der Hinweis, dass es das Rezept ab sofort auf dem Blog gibt. Der Link dazu steht in der Bio. Ich habe keine Lust die Bio aufzurufen und eigentlich will ich die Plätzchen sowieso nicht nachbacken. Das Bild like ich trotzdem schnell. Ein sinnvollerer Kommentar als „Hm Lecker“ fällt mir aber nicht ein. Also lasse ich es bleiben. In meiner Storyleiste wird mir währenddessen angezeigt, dass Marina, Bianca und Jessy (alle Namen sind fiktiv!) neue Stories online haben. Ich rufe die Stories auf und sehe Marina mit ihrem kleinen Sohn vor einem Spiegel, die Updates über ihr aktuelles Hausbauprojekt teilt. Bianca hat ein Bild von zwei neuen Rezepten gepostet, möchtet wissen, welches sie als erstes im Feed veröffentlichen soll und macht nebenbei Werbung für eine Nagellackfirma. Und Jessy? Die ist mal wieder draußen unterwegs und berichtet über ihre 75-Tage-Challenge, die bald zu Ende geht.

Als ich Instagram schließlich beende sind 45 Minuten vergangen und ich fühle mich schlecht. Dass Marina gerade ihr zweites Kind bekommen hat und gemeinsam mit ihrem Mann ein Haus baut, freut mich. Auf der anderen Seite erinnert es mich daran, dass mein Mann und ich noch kein einziges Kind zustande bekommen haben. Geschweige denn ein Haus gebaut. Wir bekommen es nicht einmal hin, die Hütte in unserem Schrebergarten zu renovieren, aktuell vergammeln die letzten Süßkartoffeln im Hochbeet, weil wir den Arsch nicht hochbekommen, um bei diesem kalten Schmuddelwetter in den Garten zu fahren und nicht selten müssen wir unsere Wäsche zweimal waschen, weil wir vergessen, sie rauszunehmen und aufzuhängen. Die Story von Bianca zieht mich auch runter. Sie hat schon wieder zwei neue Rezepte gekocht, gebacken und geshootet. Ich selber hab nichtmal mehr eines auf Vorrat. Und sie hat schon wieder eine Kooperation am Laufen. Das hatte ich seit Monaten nicht mehr. Ist auch kein Wunder: Meine Followerzahl ist permanent am Sinken. Für jeden Follower, den ich neu dazu bekomme, verliere ich fünf bis zehn. Die Story von Jessy ist aber am schlimmsten. Seit Wochen verfolge ich sie bei ihrer Challenge. Sie hält strenge Diät und macht zweimal täglich 45 Minuten Sport. Eine Runde davon im Freien, egal bei welchem Wetter. Und obwohl sie bei jeder Story betont, dass sie das einzig und allein für sich selbst macht und sich niemand dadurch getriggert fühlen soll, hinterlassen ihre Stories bei mir ein schlechtes Gewissen. Weil ich es nicht schaffe, regelmässig Sport in meinen Alltag zu integrieren und offensichtlich total faul und inkonsequent bin.

Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, komme ich mir nach jedem Besuch auf Instagram vor wie ein Versager. Klar gibt es auch schöne Momente. Jedes neue Like, jeder Follower, jeder Kommentar und jede Nachricht jagt mein Endorphinlevel in die Höhe und ich fühle mich gut. Aber das hält nie lange an und ich frage mich immer öfter, was das eigentlich soll. Ich rede mir ein, dass ich diese ganze Bestätigung aus den sozielen Medien eigentlich gar nicht brauche. Schließlich bin ich Anfang der 80er geboren, ohne Internet aufgewachsen und sollte eigentlich wissen, dass nur das echte Leben wirklich zählt. Nicht irgendein Profil im Internet, mit dem sich jeder eine Scheinwelt aufbaut und nur die besten Seiten von sich zeigt. Aber eigentlich belüge ich damit selber. Ich brauche diese Bestätigung anscheiend sehr wohl.

Es stimmt zwar, dass ich einen Großteil meiner Kindheit und Jugend ohne das Internet verbracht habe, aber ab dem Moment, an dem das Internet für mich verfügbar war, habe ich es genutzt. Ausgiebig. Zuerst war ich auf einer lokalen Community bei mir aus der Region aktiv. Normales chatten oder der Austausch in Foren hat mir aber schnell nicht mehr gereicht und ich hab angefangen, meinen ersten Blog zu schreiben. Die Follower kamen schnell und es hat mich stolz gemacht, dass es Leute gab, die sich so sehr für mich und mein Leben interessiert haben. Im echten Leben juckte es keinen, was ich machte. Im Internet offensichtlich schon. Als wenig später Facebook populär wurde, tauchte ich noch weiter in die virtuelle Welt ein und als ich 2013 meinen ersten Foodblog startete, ging mein Onlineleben richtig durch die Decke. Ich richtete Social Media Profile für meinen Blog ein, teilte meine Rezepte, die Followerzahlen stiegen und die ersten Kooperationsanfragen liesen auch nicht lange auf sich warten. Ich war auf einem Höhenflug, der darin gipfelte, dass sich mein Leben fast ausschließlich nur noch um den Blog drehte. Nahezu täglich erstellte ich Rezepte, machte Bilder für den Blog und die Social Media Accounts, verhandelte Kooperationen, setzte Aufträge um, prüfte Statistiken, optimierte Bildsprache, die Frequenz meiner Postings, hielt Kontakt mit anderen Bloggern und besuchte regelmässig Messen, Bloggertreffen, Events und ging auf Pressereisen. Private Treffen sagte ich immer häufiger ab, weil ich schlichtweg keine Zeit mehr dafür hatte. War mir aber egal, denn das echte Leben war langweilig. Zumindest war das damals meine Meinung.

2015 folgte mein erster kleiner „Zusammenbruch“. Mir war plötzlich alles zu viel und ich fühlte mich wie eingesperrt. Gefangen von einer endlosen To-Do-Liste, die nie vollständig abgearbeitet werden konnte, weil die Follower permanent nach neuem Content verlangten und ständig neue Kooperationspartner auf der Matte standen, die mich und meinen Blog als Werbefläche nutzen wollten. Ich entschied mich von heute auf morgen dafür meinen Foodblog zu beenden und mit dem ganzen Irrsinn Schluss zu machen. Als ich den letzten Post schrieb und eine Abschiedsstory für meinen Instagram-Account aufnahm, fühlte sich das wahnsinnig gut an. Nicht aber, weil ich mir dadurch selbst eine Last genommen hatte, sondern weil es mir nochmal richtig viel Aufmerksamkeit brachte. Unzählige Follower schrieben mir, wie schade sie das finden und dass sie mich schmerzlich vermissen werden. Das hat unglaublich gut getan und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, wirklich Schluß zu machen, loggte ich mich noch wochenlang in meine Accounts ein. Nur um zu schauen, ob nochmal jemand was geschrieben hat. Ich schrieb nie zurück, ich postete auch nichts mehr, aber die Kommentare musste ich einfach lesen.

Das Ende meines alten Blogs und den dazugehörigen Social Media Profilen sorgte dafür, dass ich plötzlich jede Menge Zeit hatte. Zeit und eine angenehme Leere im Kopf. Auf der anderen Seite fühlte sich meine Welt aber plötzlich auch unfassbar klein an. ICH fühlte mich unfassbar klein. Und weil ich dieses Gefühl nicht aushalten konnte, begann ich, mir etwas anderes zu suchen. Ich las viel. Vorallem im Internet. Und dabei stolperte ich über den Minimalismus. Ich war restlos begeistert. Endlich hatte ich wieder ein „Projekt“ dem ich mich widmen konnte. Und weil ich so begeistert davon war, beschloß ich, einen neuen Blog zu gründen. Ich wollte den Menschen da draußen erzählen, was ich Tolles für mich entdeckt hatte. Dieses Mal würde aber alles anders werden. Kein Zwang, kein Fokus auf Follower, keine Statistiken, kein Stress. Einfach nur vom Herz weg schreiben – so wie ich es am liebsten mochte. Anfangs klappte das auch ganz gut. Aber irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ich wieder in mein altes Online-Muster zurückfiel.

Obwohl minime.life eine komplett andere Leserschaft hatte als mein erster Blog oder mein Foodblog, war ich auch mit dieser Website und den zugehörigen Social Media Accounts ziemlich schnell erfolgreich. Inklusive Kooperationen, Presseeinladungen & Co. Der Impuls, meinen Lesern immer mehr bieten zu müssen, wuchs und ich überlegte mir ständig Neues. Neben dem Schreiben meiner Blogposts verbrachte ich immer mehr Zeit mit sozialen Medien und der Planung neuer Inhalte. Versuchte mich zusätzlich an einem Youtube-Kanal, an einem Podcast, zog einen Newsletter hoch, startete Challenges – immer auf der Suche nach DEM einen großen Ding, welches mir den absoluten Durchbruch bringen würde.

Und jetzt sind wir beim Heute. Ich denke darüber nach, was diese Jagd nach Followern, Likes und Kommentaren überhaupt soll. Eigentlich habe ich keinen Nerv mehr, meinen eigenen Wert über irgendwelche Zahlen im Netz zu definieren. Mein Kopf ist schon wieder viel zu voll. Zu vieles dreht sich um Statistiken und Optimierung. Zu viele Vergleiche mich mit anderen. Jeder Follower weniger ist eine Katastrophe und fühlt sich wie Versagen an. In den letzten Wochen habe ich wieder viel zu viel ausprobiert. Eine neue Challenge auf dem Blog. Ein neuer Feed-Aufbau auf Instagram. Mehr Reels, mehr Interaktionsaufforderung in den Storys. Trotzdem gehen die Follower zurück. Die Kommentare bleiben aus. Der Spaß an der Sache ist längst auf der Strecke geblieben und einem „Ich muss irgendwie weitermachen“ gewichen.

Erneut einen Schlussstrich zu ziehen, wäre vermutlich die sinnvollste Reaktion. Für mich selbst, für meinen Seelenfrieden und für meine geistige Gesundheit. Aber mein Gewissen meckert. Ermahnt mich, an das Geld zu denken, welches ich in den Blog, Social Media Tools & Co gesteckt habe und auch das Geld nicht zu vergessen, welches ich mit Kooperationen, Werbebannern und Affiliate-Links über die letzten Jahre verdient habe. „Mit Instagram kannst du nicht Schluss machen“ sagt es mir und ich nicke innerlich zustimmend. Neuerdings können auch Accounts unter 10.000 Followern Links in Stories platzieren. Perfekt, um Verlinkungen zum Amazon Affiliate Programm unter zu bekommen und weitere Einnahmen zu generieren. Ich kann auch nicht einfach den Kontakt zu meinen Followern abbrechen. Einige davon sind mir sehr ans Herz gewachsen und ich unterhalte mich total gerne mit ihnen. Sie würden mir sehr fehlen.

Mein Kopf droht inzwischen beinahe zu platzen. Kann ich es wagen, einfach aus der Online-Bubble auszusteigen? Niemand in meinem Freundeskreis ist in den sozialen Medien so aktiv wie ich. Keiner hat einen Blog, befasst sich so intensiv mit Kennzahlen, analysiert, optimiert und plant Social Media Inhalte. Wenn einer meiner Real-Life-Freunde etwas auf Instagram postet, dann einfach nur so, weil er Lust drauf hat. Nicht, um neue Follower zu generieren, die Watchtime zu pushen oder Affiliate Links zu setzen. Dafür beneide ich sie schon lange. Und wünschte mir, ich könnte das auch.

Draussen vor dem Wohnzimmerfenster tanzen noch immer die letzten gelben Blätter. Der Nebel hat sich verzogen und die Sonne strahlt vom klaren kalten Himmel. Eigentlich wollte ich gleich noch einen Hefeteig ansetzen, um später ein neues Rezept für Instagram zu shooten. Jetzt frag ich mich, wofür eigentlich. Dass mir 150 Leute sagen können, wie lecker das aussieht und vielleicht eine Hand voll davon das Rezept speichern, um es irgendwann mal nachzubacken? Ganz schön dumm eigentlich.

Bevor mein Gehirn wieder meckern kann gehe ich in die Küche, koche mir einen Kaffee und setze mich auf den Balkon. Im Efeu vor meinem Balkon zwitschern die Vögel. Die Sonne scheint in mein Gesicht. Ich entscheide: Kein Hefeteig heute. Kein neues Rezept. Statt dessen nehme ich mein Handy, öffne Instagram, stelle meinen Business-Accout zurück und deaktiviere die Anzeige für Likes. Zum ersten Mal überhaupt. Danach schließe ich die Augen, höre den Vögeln zu und genieße meinen Kaffee. Ganz für mich alleine. Es ist wundervoll. So wundervoll wie das kleine gelbe Blatt, welches der Wind gerade vor meine Füße weht. Es tanzt über den Boden während der Wind kühl durch meine Haare streicht. Ich sehe es und ich fühle es. Kein Display dazwischen. Nur das Blatt, der Wind und ich. Ein Moment voller Ruhe, den ich zum ersten Mal ganz bewusst nicht auf Instagram teile. Der nur mir ganz alleine gehört. Ein ganz neues Gefühl von Freiheit. Endlich Stille im Kopf und Leichtigkeit im Herz.

Das gelbe Blatt will ich am liebsten aufheben. Es ist ein Buch pressen und später einrahmen. Als Erinnerung an einen wundervollen Tag im Herbst, an dem ich einen ersten kleinen Schritt aus dem Gefängnis heraus gemacht habe, das ich mir selbst geschaffen habe. Und als Mahnmal, es niemals wieder so weit kommen zu lassen. Stattdessen übergebe ich das Blatt dem Wind. Sehe zu, wie es langsam über die Balkonbrüstung nach unten segelt. Machs gut kleines Blatt. Tanz im Wind. Sei frei. So wie ich selbst. Vielleicht. Irgenwann.

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2 Comments

  1. Debby says:

    Danke für diese schöne „Geschichte“ – wunderschön geschrieben! Danke für deine offenen Worte und deine Ehrlichkeit!
    So vieles kommt mir bekannt vor und regt mich zum nachdenken an. Warum lassen wir uns so schnell von dieser Internet-Welt unter Druck setzen? Ich hab für mich noch keine Antwort gefunden bin aber voll auf deiner Seite, das alles einfach mal ruhiger angehen zu lassen. Halt mal etwas nicht zu posten und lieber den Blättern im Wind zuzuschauen. Danke für diesen Reminder!

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    1. Monica Albrecht says:

      Hi Debby, vielen Dank für deine Nachricht. Freut mich sehr, dass dir meine Geschichte gefallen hat und dich zum Nachdenken anregen konnte. Ich wünsche dir ganz viele Herbstblattmomente – ganz ohne Druck und soziale Medien <3 Liebe Grüße Moni

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